In Stücke gerissen by Miklós Bánffy
Autor:Miklós Bánffy [Bánffy, Miklós]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Carl Hanser Verlag
veröffentlicht: 2015-04-22T16:00:00+00:00
II.
Bálint erinnerte sich in den folgenden Wochen oft an das Gespräch, das er mit Slawata geführt hatte. Vorerst blieb allerdings alles beim Alten, denn die Regierung, die zurückgetreten war, bildete sich nach drei mit Reibereien erfüllten Wochen neu. Sie legte im Einverständnis mit ihrer Partei die vom König beanstandete Vorlage, die Resolution, beiseite. Khuen jedoch hatte sich nur zur Bereinigung dieser einen Angelegenheit bereiterklärt, und nach zwei Wochen stellte er sein Amt endgültig zur Verfügung – dies umso lieber, als die Obstruktion auch während dieser Zeit munter fortdauerte. Mitte April wurde tatsächlich László Lukács Ministerpräsident.
Sein veröffentlichtes Programm war dasselbe wie dasjenige seines Vorgängers, freilich hatte er schon vor seiner Antrittsrede begonnen, mit Justh Verhandlungen zu führen. Dieser blieb auch hernach sein einziger echter Gesprächspartner, mit den anderen Größen der Opposition pflegte er den Kontakt eher nur der Form halber.
Gerüchte, vielgestaltige Gerüchte gingen um, die für die Nicht-Eingeweihten undenkbar schienen, nach denen Lukács, mit Justh vereint, sich darum bemühte, zur Durchsetzung der Wahlrechtsreform einen Block zu bilden, und zwar ohne Tisza, ja sogar gegen ihn. Es gab jedenfalls einige Zeichen, die dafür sprachen. So geschah in der Delegation Unerwartetes: Kossuths Anhänger attackierten Verteidigungsminister Auffenberg wegen seines Memorandums, in dem er die Frage der Resolution aufgegriffen und sich tatsächlich unberechtigterweise in ungarische innere Angelegenheiten eingemischt hatte; und da eilte dem Minister Tivadar Battyhány zu Hilfe, der zum engen Kreis um Justh gehörte. Ein verblüffender Schwenk. Und man erfuhr von anderen ähnlichen Fällen. Mihály Károlyi, der Vorsitzende der Nationalen Wirtschaftsvereinigung, der, wiewohl von jeher ein Parteigänger der Unabhängigen, zwei Jahre zuvor an einer dem Wahlrecht gewidmeten Versammlung der Konservativen noch unter den Anführern mit Tisza gemeinsam aufgetreten war, lief jetzt, wie es hieß, zur anderen Seite über; auch er stehe auf radikaler Grundlage, und als solcher vermittle er zwischen dem Regierungschef und Justh.
Es handelte sich bei allen diesen Informationen um unsichere Nachrichten. Gewissheit hatte niemand, doch die innenpolitische Atmosphäre wurde in Erwartung des Sturms immer gespannter. Die Obstruktion nahm indessen unbeschwert ihren Lauf und vernichtete beim Publikum jedes Interesse für die Geschehnisse im Parlament, denn es lockte wahrhaftig niemanden mehr, darüber zu lesen, dass die Gesetzgeber vom Morgen bis zum Abend in Namensabstimmungen über Kleinigkeiten entschieden oder geschlossene Sitzungen abhielten.
Abády begab sich während dieser Zeit einzig dann in die Hauptstadt, wenn seine Arbeit für die Genossenschaften dies erforderte. Er war ziemlich häufig unterwegs zwischen Siebenbürgen, Budapest und Abbazia, wo sich bis Ende April seine Mutter aufhielt. Zu diesem Zeitpunkt pflegte sie heimzukehren. Sie hatte es auch jetzt so geplant, doch etwas kam dazwischen.
Im Hotel Hungaria in Budapest war ihr Zimmer schon reserviert. Der Sohn erwartete täglich die Mitteilung ihrer Abreise. Ein Telegramm traf tatsächlich ein, doch darin stand anderes, und zwar nur so viel: »Ich kann jetzt nicht abreisen. Brief folgt. Mutter.«
Das Schreiben traf am nächsten Tag ein. Eine fremde Hand hatte den Briefumschlag des Hotels adressiert, es waren nicht ihre schmalen, stark geneigten Buchstaben. Bálint riss das Kuvert unruhig auf.
Es enthielt zwei Briefe. Der längere lautete so:
»Mein lieber Sohn,
diese Zeilen diktiere ich, aber erschrick nicht, ich bin nicht ernsthaft krank.
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